Fußballdemokratie für die Ukraine

In unserer Rubrik EINWURF lassen wir in unregelmäßigen Abständen Teilnehmer unserer Seminare zu Wort kommen, die sich zu unterschiedlichen Themen rund um den Fußball in Osteuropa äußern. Im zweiten Teil beschreibt der Ukrainer Igor Gomonai ein Fanprojekt, das er zusammen mit  Olexandr Ostapa, Yurii Konkevych und Maksym Sholomko ins Leben gerufen hat. 

 

Mit Informationen zum Wandel beitragen

 

In unserem Land, der Ukraine, ist die Zeit für große Veränderungen gekommen. Nach Jahrzehnten, in denen wir vor allem als Satelliten-Staat des „großen Bruders“ Russland existierten, haben die meisten Ukrainer endlich den Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Zukunft verstanden – „die europäische Richtung“ wurde als Weg für eine neue Entwicklung der Ukraine eingeschlagen. Der Fortschritt stellt sich nicht so schnell ein, wie viele sich dass wünschen. Aber wir sind überzeugt, dass strategische Planungen und das gesunde Wachsen die richtigen Wege darstellen, um Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft möglich zu machen. Das betrifft auch den Fußball, „dem Spiel der Millionen“.

 

Oligarchen regieren den Fußball

 

Zur Zeit der Sowjetunion gab es kein privates Besitztum. Deswegen gehörten alle Fußballvereine der Regierung bzw. staatlichen Unternehmen wie beispielsweise der Eisenbahngesellschaft, Stahlproduzenten oder Bergwerken. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine übernahmen Millionäre und Milliardäre (die ihr Geld in den Neunzigern mit dubiosen Geschäften verdienten) Traditionsvereine wie Dynamo Kiyv, FK Dnipro, Karpaty Lviv oder Shachtar Donezk. Warum sich diese Oligarchen Fußballvereine zulegten? In den meisten Fällen hatten sie wohl tatsächlich ein Herz für den Fußball; sie wollten zeigen, dass sie sich um die Fans kümmern können (was ihnen nicht selten auch einen politischen und wirtschaftlichen Einfluss sicherte) und häufig betonten sie, dass das Fußballgeschäft alles andere als profitabel sei. Deswegen forderten die Oligarchen, solle man sie für ihre uneigennützige „Philantropie“ respektieren. Einige der Topvereine der Premjer Liha hatten in den vergangenen Jahren Budgets von vielen Millionen Euro, andere Eigentümer wiederum konnten es sich nicht leisten, so viel Geld in ihren Verein zu investieren. Dennoch übernahmen sie das besagte „Philantropie“-Modell, in dem Fans und Anhänger naturgemäß keinen Platz haben. Sie spielen einfach keine Rolle – auch weil die Gewinne aus Ticketverkäufen und Merchandise relativ gering sind. Nur im Stadion wird ihnen eine Rolle als „Dekoration“ zugedacht (solange sie keinen Ärger machen). Außerhalb der Stadien will niemand die Stimmen der Fans hören – und was sie zu sagen haben. Zwischen Vereins- und Verbandsstrukturen und den Fans klafft ein tiefer Graben. Und auch unter den Fans herrscht ein starker Pessimismus, der eine vereinsübergreifende Zusammenarbeit von Fans bezüglich von Fanrechten und -interessen, wie sie beispielsweise in Deutschland institutionalisiert ist, sehr schwierig macht.

 

Der schleichende Prozess der Veränderung

 

Aber nun verändert sich das Land. Und dies betrifft auch den Fußball. Denn die Wirtschaft, die von Oligarchen kontrolliert und beherrscht wurde, wird sich in den nächsten Jahren wandeln – hinzu einer freieren Marktwirtschaft, die hoffentlich mehr von Gesetzen reguliert und geschützt wird als von den Interessen einzelner. Für die Oligarchen lohnt es sich jetzt schon nicht mehr, Millionen in einen Fußball zu stecken, der in Zeiten des Krieges und der Wirtschaftskrise kaum noch Geld abwirft und zum Minus-Geschäft degradiert ist. Auch bei den Fans ist die Einsicht gewachsen, dass sich die autoritären Strukturen innerhalb der Vereine und Verbände parallel zum Aufkeimen der ukrainischen Zivilgesellschaft verändern müssen. Die Zeit, in der die Vereine auf den Dialog mit den Fans verzichten konnten, hat tiefe Spuren hinterlassen. Denn viele enttäuschte Fans haben ihren Stadien und auch ihren Vereinen den Rücken gekehrt. Nur durchschnittlich 5000 Zuschauer finden den Weg noch ins Stadium, wenn es um ein Topspiel der höchsten Spielklasse geht. Die Enttäuschten unter den Fans sagen – indem sie auch die üblichen Stereotype der Medien aufgreifen –, dass die Stadien von „gefährlichen Ultras“ beherrscht würden und dass der Service in den Stadien mies sei. Aber wir brauchen diese Anhänger, die einst mit Leidenschaft und Liebe zu ihren Vereinen gehalten haben, zurück in den Stadien. Wir brauchen mehr Leute, die sehen und verstehen, dass der Fußball nicht den Oligarchen gehört, sondern uns.

 

Dem Beispiel anderer folgen

 

Wie aber lässt sich ein Wandel vollziehen, wenn es außerhalb der autoritären Strukturen, deren Wurzeln im Zarenreich und in der Sowjetunion liegen, bei uns nie eine Alternative gegeben hat? Wie soll diese Transformation gelingen, wenn die Ukraine kaum auf eine demokratische Tradition zurückblicken kann? Wie soll man den Fußball generell attraktiver für die Menschen machen, wenn sie andere Sorgen haben? Wie kann man Vereine so umstrukturieren, dass sie tatsächlich rentabel und sinnvoll, im Sinne der Anhänger, geführt werden? Wie kann man diejenigen involvieren, die ihre Vereine mit voller Leidenschaft unterstützen und eben nicht nur an Geld und Ruhm denken, sondern daran, dass ein Verein Familie, Identität, Freundschaft und Verantwortung bedeutet?

Auch wir haben keine klaren Antworten auf diese drängenden und komplexen Fragen. Auch wir haben kein fertiges Rezept, das einen schnellen Erfolg verspricht. Aber wir sind überzeugt, dass es hilfreich ist, sich umzuschauen, in anderen Ländern, in anderen Fußballszenen, um besser zu verstehen, was uns helfen könnte, einen Wandel zu organisieren und zu begleiten. Unsere Medien haben sich immer für Beckham, Ronaldo oder Messi interessiert, aber nie wirklich dafür, wie sich Fanszenen in anderen europäischen Ländern organisieren, wie sie es schaffen, in Dialogprozessen mit Vereinen, Verbänden und staatlichen Institutionen ihre Interessen durchzusetzen. In unseren Zeitungen und TV-Programmen wird man kaum irgendwelche Geschichten finden, die zeigen, wie Fans sich in ihren Clubs einbringen, wie sich Fanorganisationen gegründet oder wie es Anhänger geschafft haben, ihre Clubs im Sinne ihrer Interessen zu verändern. Deswegen haben wir, eine Gruppe von ukrainischen aktiven Fans und Journalisten, das Projekt Football Democracy gegründet. Mit unserem Internetportal wollen wir diese klaffende Informationslücke für Fan-bezogene Themen schließen.

In einem unserer ersten Beiträge erzählen wir beispielsweise die Geschichte, wie und warum sich in England die heute größte Fanvereinigung FSF gegründet hat. In Zukunft wollen wir Interviews veröffentlichen, Artikel aus anderen Sprachen übersetzen und selbst Geschichten von Fankaktivitäten in der Ukraine und in anderen Ländern aufbereiten. Im Moment betreiben wir das Projekt ehrenamtlich. Aber wir hoffen sehr, dass wir in Zukunft Projektgelder akquirieren können, um das Projekt zu konsolidieren und auszubauen.

 

Gegen Pessimismus und Vorurteile

 

Mit Football Democracy wollen wir beweisen, dass Fans im Fußball eine bedeutende Rolle spielen können, wenn es darum geht, den Fußball zu einem besseren Ort zu machen. Wir wollen zeigen, wie wichtig es ist, voneinander zu lernen und sich zusammen zu tun, um Wandel herbei zu führen. Wir hoffen sehr, dass wir auch andere ermutigen können, aktiv zu werden – auch außerhalb der Spiele – und den pessimistischen Gedanken zu vertreiben, dass der Fußball in der Ukraine unbedingt das Geld der Oligarchen brauche, um profitabel zu sein und überleben zu können. Wir wissen, dass dieser Weg des Wandels kein einfacher wird. Aber es ist besser, den Weg zu beginnen, als es überhaupt nicht zu versuchen.

 

 

Aus dem Englischen von Ingo Petz

 

Hinweis: Die Inhalte unseres Blogs EINWURF spiegeln nicht unbedingt die Meinung von „Fankurve Ost – Fußball und Gesellschaft“ wider.