Die Gesellschaft von unten verändern


Diesmal ging es Richtung Westen. Nach unserem ersten Arbeitstreffen im vergangenen November im Osten der Ukraine, wo wir uns die Entwicklung des Fanprojekts Synelnykove angeschaut haben, reisten wir diesmal in die westukrainischen Städte Lutsk und Rivne. Dort entstehen – unter Inspiration des Konzepts der sozialpädagogischen Fanprojekte in Deutschland – ebenfalls Fanprojekte, die die Interessen von Fans und Fußballbegeisterten bündeln und die zu deren Anlaufstellen werden sollen: für Treffen, soziale Projekte, Bildungs- und Jugendarbeit.

Mit dem Bus starteten wir in Kiew und fuhren dann fast sechs Stunden durch den grauen Winter, bevor wir am Abend die historische Stadt Lutsk erreichten. In unserer Gruppe: ukrainische Teilnehmer unserer vergangenen Seminare zur „Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft“ und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Fanprojekten in Offenbach, in Cottbus, bei Union Berlin und in Jena sowie von Nicole Selmer, stellvertr. Chefredakteurin des bekannten österreichischen Fußballmagazins ballesterer. Insgesamt rund 20 Teilnehmer. Zudem stießen vor Ort weitere Interessierte zu den Treffen. 

Nach einem Abend in einer lokalen Brauerei, wo sich die Gruppe kennen lernte, begann der erste Arbeitstag mit einem Vortrag von Yuri Konkevich, der bereits an zahlreichen Fankurve Ost-Veranstaltungen teilgenommen hat und nun selbst ein Fanprojekt in Lutsk aufbauen will. Er hatte das Programm für unser Arbeitstreffen in seiner Heimatstadt organisiert. Yuri analysierte die aktuellen Probleme und Herausforderungen im ukrainischen Fußball, die einerseits durch die strukturellen Altlasten der Sowjetunion geprägt sind und andererseits immer noch von den Oligarchen im Land verursacht und begründet werden. In den Vereinen gibt es keine demokratischen Strukturen. Die Eigentümer bestimmen die Politik ihrer Vereine, weitgehend ohne Rücksicht auf die Fans, was zu einer konfrontativen Atmosphäre bei fast allen Profivereinen führt. „Für die Strukturen in den Vereinen interessieren sich die Eigentümer meistens nicht. Meistens steht die Profimannschaft im Vordergrund.“ Zudem betonte Yuri das Problem der Korruption, die den ukrainischen Fußball durchdringe. Als aktuelles Beispiel nannte er den Skandal um „gekaufte Spiele“. Ein weiterer Punkt, der den Fußball in der Ukraine beeinflusst, ist die mangelnde Qualität in den Profiligen, was zu einem massiven Zuschauerrückgang geführt hat. In der Premjer Liha kommen durchschnittlich 4000 Fans in die Stadien. Auch der Krieg in der Ostukraine, der drei Vereine ihrer Heimspielstätten beraubt hat, und die Wirtschaftskrise im Land würden den Fußball massiv negativ beeinflussen.

In der anschließenden Diskussion, an der mit Aleksei Veramejchik auch ein für die Sportentwicklung verantwortlicher Beamter in der Stadtverwaltung teilnahm, stellte Yuri die Idee seines Fanprojektes vor:

 

Unser Fanprojekt wird eine informelle Plattform für den Austausch aller Teilnehmer aus den Fußball-Fanszenen der Region sein: für Fans, Medien, Manager und Spieler. Ziel ist es, neue Fußballprojekte wie Freundschaftsspiele und Wettbewerbe nicht-professioneller Fußball- und Futsal-Mannschaften untereinander und mit anderen Regionen und Ländern umzusetzen, dazu gemeinnützige und soziale Projekte, gemeinsame Studienbesuche bei Partnerschaftsprojekten, Marketingveranstaltungen oder Treffen in Lutsk mit interessantem Fußballpersönlichkeiten. Eine andere Richtung ist die Lobbyarbeit für die Interessen des nichtprofessionellen Fußballs bei lokalen Behörden und entsprechende Informationsaktivitäten.“

 

Der Stadtbeamte Veramejchik berichtete, dass es immer mehr ehrenamtliche Initiativen im Sport geben würde, dass die Mittel der staatlichen Förderung allerdings sehr begrenzt seien. Er begrüßte die Idee des Fanprojekts und sagte dem entstehenden Projekt Unterstützung zu. Evtl. würde man gar eine Räumlichkeit finden. Danach besuchte die Gruppe den Verein Volyn Lutsk, der zurzeit in der zweithöchsten Klasse des Landes spielt. Nach einer Tour durch das Stadion berichtete Yuri Kovalchuk von seiner langjährigen Arbeit als Sicherheitsbeauftragter und von seiner Erfahrung bezüglich der Arbeit mit Fans. Dabei betonte er, dass Austausch, Dialog und Vertrauen auch ihm als Sicherheitsbeauftragen wichtig wären, um eine optimale Arbeit während der Spiele leisten zu können. In weiteren Treffen lernte die Gruppe das Engagement zweier Graswurzel-Initiativen im Fußball kennen: einmal die ehrenamtliche Arbeit des Futsal-Verbandes Volyn, unter dem mittlerweile rund 80 Mannschaften organisiert sind, den Futsal-Verein Lubart sowie die beeindruckenden Arbeit des Vereins FC Respect, der sich in der Region für die Nachwuchsarbeit stark macht, ganz ohne staatliche Förderungen. In allen Gesprächen wurde deutlich, wie stark der Wille ist, die althergebrachten Top-down-Strukturen aufzubrechen und eine Fußballkultur von unten zu schaffen, wozu sicher auch die zivilgesellschatlichen Errungenschaften des Euromaidan beigetragen haben. Auch in den Diskussionen, die die Gruppe untereinander führte, zeigten sich sowohl die deutschen Teilnehmer (von deren die meisten das erste Mal in der Ukraine waren) beeindruckt von der Vielzahl ehrenamtlicher Projekte als auch die ukrainischen Teilnehmer, die aus anderen Regionen zur Gruppe gestoßen waren. So sagte eine Teilnehmerin: „Ich hätte niemals gedacht, dass es außerhalb von Kiew so viele engagierte Leute bei uns gibt.“

 

Am dritten Tag fuhr die Gruppe schließlich nach Rivne, einer Stadt mit rund 240.000 Einwohnern, die in den vergangenen Jahren aufgrund ihres Fußballvereins Veres Rivne für Aufsehen gesorgt hat. Der Verein wurde als „Gegenmodell“ zu den Oligarchenstrukturen von Fans gegründet. Es gelang ihm sogar der Sprung in die Premjer Liha im Jahr 2017, allerdings wurde der Verein dann von den alten Strukturen eingeholt, da der größte Sponsor schließlich den Verein „okkupierte“ und die Profimannschaft von Veres mit dem bereits bestehenden Verein FC Lviv vereinigte, der anstelle von Veres nun in der Premjer Liha spielt. So musste der eigentliche Verein Veres Rivne in die dritte Liga absteigen, wo er aktuell zuhause ist. Bei späteren Gesprächen mit Fans von Veres war dies eine häufig gestellte Frage: „Wie kann man es schaffen, dass wir als Fans und Mitglieder die Politik des Vereins bestimmten können, ohne dass ein reicher Investor kommt und sich den Verein zunutze macht?“

Zunächst besuchten wir in Rivne die alte Spielstätte des Vereins, das städtische Avanhard-Stadion, welches in den 1920ern gebaut wurde und das in naher Zukunft einem neuen Stadion weichen soll. „Die ganze Stadt wartet auf dieses neue Stadion“, erklärte Volodymyr Grebjunkin. „Damit ist auch die Hoffnung verbunden, dass wir wieder mehr Fans zu unserem Verein holen können.“ Volodymyr ist einer der Führungspersönlichkeiten der Fangruppierung „Lucky Fans“. Er organisierte das Programm in Rivne. Im Umfeld des Vereins plant er ein Fanprojekt, dessen Idee er wie folgt beschreibt:

 

Fanhouse – so heißt unsere zukünftige öffentliche Organisation für Fans in Rivne. Das Projekt soll verschiedene Sportarten aus der Stadt zusammenbringen - Basketball, Volleyball, Fußball, Rugby usw.. Wir möchten die Sportkultur in unserer Region durch verschiedene Treffen, interessante und kreative Veranstaltungen, Diskussionen, Seminare, gemeinsame Aktionen, Erfahrungsaustausch mit anderen Fanklubs und anderen Vereinen, einschließlich ausländischer Vereine, weiterentwickeln und verbessern. Wir planen auch, Fans mögliche ein Unterstützung zu bieten, um Aktivitäten bei ihren Vereinen zu fördern und umzusetzen. Und wir wollen Beziehungen mit Vertretern lokaler Behörden und staatlicher Behörden aufbauen. Ein wichtiger Bereich vom Fanhouse ist die Wohltätigkeitsarbeit sowie die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.“

 

Nach dem Besuch des Veres Space, einer Art Café und Treffpunkt mit angeschlossenem Fanshop des Vereins, ging es in die Universität der Stadt, wo bereits zahlreiche Medienvertreter und Fans von Veres auf uns warteten. Im ersten Teil der Veranstaltung erklärten die deutschen Teilnehmer das Konzept der sozialpädagogischen Fanprojekte und deren Funktion im deutschen Fußball und in der sozialen Arbeit mit jungen Fans. Im zweiten Teil fand ein Austausch zwischen Vertretern von lokalen Sportvereinen und -verbänden und unserer Gruppe statt. Dabei sorgte vor allem das deutsche Konzept des „eingetragenen Vereins“ und des „Mitgliedervereins“ und die Rolle der Ehrenamtlichen in der Gesellschaft für großes Interesse. Zudem interessierten sich die Diskussionsteilnehmer für Formen des Sponsoring und der finanziellen Unterstützung für Vereine.

Bei unserer abschließenden Feedbackrunde betonten die ukrainischen Teilnehmer der Arbeitstreffen, wie motivierend es für sie gewesen sei, „zu sehen, dass sich viele Initiativen im Sport gründen, ohne dass sie auf das große Geld fokussiert seien, sondern auf die positiven Aspekte des Sports, der Menschen zusammenbringt“. Von der deutschen Seite wurde ebenfalls die „große Begeisterung“ gelobt, mit der in der Ukraine die ersten Versuche unternommen werden, Sport und Fußball von unten zu organisieren. Zudem hätte man die Möglichkeit gehabt, die in Deutschland immer noch wenig bekannte Ukraine über ein spezielles Thema kennen zu lernen. Von beiden Seiten wurde der sehr „fruchtbare“ und „lebendige“ Austausch innerhalb der Gruppe gelobt, der helfe, die neu gewonnen Kontakte und Bekanntschaften auch in Zukunft zu pflegen, was zu gemeinsamen Projekten führen könnte. Am Ende der Reise gab es noch eine positive Nachricht: Andrij Kryhan, der unser erstes Arbeitstreffen in der Kleinstadt Synelnykove organisiert hatte, verkündetet, dass seine Initiative, das Fanprojekt Synelnykove, beim ukrainischen Justizministerium als öffentliche Organisation (NGO) registriert worden sei. Nach der NGO Football Democracy ist es bereits die zweite Initiative, die aus unserem Fankurve Ost-Netzwerk heraus gegründet wurde. Und wie wir in Lutsk und Rivne gesehen haben: Weitere werden ganz sicher folgen.

 

 


 

Während der Reise sind zahlreiche TV-Beiträge ukrainischer Medien über unsere Arbeitstreffen entstanden. Eine Auswahl:

 

12 Kanal (Lutsk) über den Besuch bei Volyn Lutsk

Vso pro Sport (Alles über Sport) über unseren Besuch in Lutsk (ab 26:50 Min.)

Rivne 1 über den Besuch in Rivne

Rivne 1 mit der Talkshow "Chas Futbolu", in der zwei unserer Teilnehmer (Igor Gomonai und Yuri Konkevich) über Fanprojekte in Deutschland über die Probleme des ukrainischen Fußballs sprechen.

In derselben Sendung spricht Pascal Poethke, Sozialarbeiter beim Fanprojekt Alte Försterei (1. FC Union Berlin), über sozialpädagogische Fanprojekte und über die Bedeutung von Mitbestimmung und Selbstorganisation für die deutschen Fanszenen.