Quo vadis, Ukraina?


In den vergangenen Jahren hat die Ukraine eine gesellschaftspolitisch turbulente Zeit erlebt. Trotz des Krieges im Osten des Landes haben die letzten Wahlen immer wieder gezeigt, dass radikale Kräfte kaum eine Chance haben. Der Erdrutschsieg der Partei des neuen Präsidenten Volodimir Zelensky betont den Wunsch der Ukrainer, mit dem alten korrupten, postsowjetischen System vollends Schluss machen zu wollen und weiter den Weg der Demokratisierung zu gehen. Ob dies gelingt, muss abgewartet werden. Die durch den Euromaidan entfachte zivilgesellschaftliche Dynamik stärkt auch im Fußballraum den Wunsch, die alten, durch Oligarchen geprägten autoritären Strukturen verändern zu wollen. Das haben wir bei all unseren Workshops und Arbeitstreffen in den vergangenen Jahren erfahren. Noch fehlt es an einer klaren Linie, aber vielerorts entstehen Graswurzelinitiativen, um Fußball neu und anders zu organisieren, von unten. Zudem haben sich aus unserem Netzwerk drei Fanprojekte in Kyiv, Luzk und in Synelnikove etabliert, die zwar noch am Anfang stehen und ohne Finanzierung auf die eigene Kraft des Enthusiasmus und Ehrenamts setzen, die aber gewillt sind, einen Wandel und eine landesweite Vernetzung Gleichgesinnter weiter voranzutreiben. Deswegen waren wir vom 4. bis 7. August 2019 in der ukrainischen Hauptstadt, wo wir bei einem Arbeitstreffen zusammen mit rund 30 Teilnehmern und Teilnehmerinnen versucht haben, zu erörtern, wie eine Weiterentwicklung aussehen könnte. Das Treffen fand an zwei Tagen in den Räumlichkeiten des Zweitligavereins FK Obolon Brovar und beim Traditionsverein Dinamo Kyiv statt. Lokaler Partner war die NGO Футбольна Демократія - Football Democracy, die sich sich ebenfalls als Folge unserer langjährigen Aktivitäten gegründet hat. Unter den Teilnehmern befanden sich Sicherheitsexperten, Funktionäre und Fanbeauftragte von Fußballvereinen, Mitarbeiter von Verbänden, Vertreter von Faninitiativen und Journalisten.

 

Eröffnet wurde das Arbeitstreffen von Oleksandr Riznychenko. Der Vereinsdirektor des FK Obolon stellte in seinem Vortrag dar, wie schwierig es selbst für einen im Bezirk verorteten Verein wie Obolon sei, Leute ins Stadion zu holen. „Als wir in der Premjer Liha gespielt haben, war das Stadion voll. Aber in der zweiten Liga kämpfen wir mit einer Zuschauerzahl zwischen 500 – 1000.“ Als Gründe für die schwache Auslastung gab er die allgemeine wirtschaftliche Lage im Land an, die fehlende Bindung der Leute zu den lokalen Vereinen und die Ausrichtung vieler, die sich für Fußball interessieren, auf den hochklassigen Fußball der Champions League, den sie im Fernsehen verfolgen. In einem weiteren Input schloss Svetlana Rybakova, die in der Marketingabteilung der Professionalna Futbolna Liga (PFL) arbeitet, an die Diskussion ihres Vorredners an. In der abgelaufenen Saison hätten rund 670.000 Zuschauer die Spiele der zweithöchsten Klasse des Landes besucht. Künftig strebe man eine durchschnittliche Zuschauerzahl von einer Millionen an. Allerdings sei man mit diversen Strukturproblemen konfrontiert. So gebe es in den beiden unteren Profiligen kaum Vereine mit professionellen Marketingstrukturen. Da Fans und Ticketverkäufe den Vereinen kaum Geld brächten, gebe es auch keine stringenten Bestrebungen, mit den Fans zu arbeiten, um die Bindung zwischen ihnen und den Vereinen zu stärken. Fans und Vereinseigner, so der Einwurf eines Teilnehmers, stünden sich bei fast allen Vereinen wie Fremdkörper gegenüber.

 

In der weiteren Diskussion wurde wiederholt festgestellt, dass man die Menschen wieder für ihre lokalen Vereine begeistern müsse. Da sie das Fundament für einen künftigen Wandel im Fußball in der Ukraine seien. Dazu wolle man versuchen, in die Schulen zu gehen, Familienfeste veranstalten, Veranstaltungen wie Diskussionen oder Lesungen rund um den Fußball zu organisieren. Zudem wurde immer wieder betont, dass die Menschen in der Ukraine es nicht gewohnt seien, Eigeninitiative zu zeigen und eigene Dinge auf die Beine zu stellen. Ein Erbe der Sowjetunion. Nur zur Erklärung: Mitgliedervereine wie in Deutschland kennt der ukrainische Fußball nicht. Die Vereine werden von Mäzenen finanziert oder aus dem Haushalt von staatlichen Strukturen. Der nächste Tag des Arbeitstreffens fand in den Räumlichkeiten von Dinamok Kyiv statt, die sich auf dem Gelände des altehrwürdigen Lobanowski-Stadions befinden. Kateryna Solarik, Leiterin des offiziellen Fanklubs von Dinamo Kyiv, begrüßte unsere Gruppe und berichtete von ihrer Arbeit. Danach umriss Anatloyi Benkovskyi, Sicherheitsexperte von Dinamo Kyiv, in einem lebendigen, mit zahlreichen Anekdoten gefütterten Vortrag seine Arbeit. „Ich habe einen lustigen Job“, sagte er zum Schluss in ironischer Anspielung auf die häufig schwierige Vermittlung zwischen Sicherheitsbehörden und Fans, die gerne Pyrotechnik zünden oder sich nicht selten mit gegnerischen Fans prügeln. Denys Movchan, ein ehemaliger Polizist, der bei vielen Fußballspielen für die Sicherheit zuständig war, argumentierte in einem Vortrag, dass die Polizei in der Ukraine noch weitgehend mit den alten autoritären Strukturen zu kämpfen habe. „Die Fähigkeit über Kommunikation deeskalierend zu arbeiten haben leider noch nicht viele Polizisten im Land.“ Movchan würde es begrüßen, wenn sich Fanprojekte gründen würden, die als Mittler zwischen Fans und Polizei und Vereinen fungieren könnten, um bei Risikospielen deeskalierend zu wirken. Yuri Konkevych berichtete in seinem Vortrag schließlich von den Fortschritten des Fanprojekts Volyn, das er mit Gleichgesinnten in Luzk gegründet hat. „Im Moment sind wir eine lose Versammlung von rund 30 Leuten, die sich vor allem um den Verein Volyn Luzk gruppieren und die dem Verein helfen wollen, neue Fans zu generieren. Zudem treffen wir uns mit anderen Fußballinitiativen aus der Stadt und der Region, um zu sehen, wie wir unsere Interessen künftig besser gegenüber staatlichen Stellen vertreten können. Den Raum, der uns von einem Beamten beim Arbeitstreffen in Luzk Anfang des Jahres zugesichert wurde, haben wir leider noch nicht erhalten. Aber wir bleiben dran.“

In der abschließenden Diskussionsrunde wurde der zweitätige Austausch als äußerst fruchtbar und inspirierend empfunden. Svetlana Rybakova von der PFL sagte: „So viele unterschiedliche Menschen, die den Fußball lieben und leben, haben mir die Augen geöffnet, dass wir uns viel besser vernetzen müssen, wenn wir den Fußball in unsrem Land attraktiver gestalten wollen.“ Bei den Diskussionen merkt man immer wieder, dass der Wunsch da ist, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Dennoch fehlt es vielen an positiven Beispielen, die sie motivieren, endlich Eigeninitiative zu ergreifen.

 

Als Ergebnis wurde festgehalten: 1. Man wolle versuchen, in Kyiv künftig ein regelmäßiges Austauschtreffen zu organisieren, um mit Vereinsmitarbeitern und Fans Interessen und Ideen zu diskutieren und Veranstaltungen zu organisieren. 2. Oleksandr Onyshchenko, ein Sozialarbeiter, der im Familienministerium arbeitet, bot Hilfe bei der Antragstellung für mögliche öffentliche Projektgelder an. 3. Auch wenn die Entwicklung der Fanprojekt und der Selbstorganisation zurzeit in gewisser Weise stocke, wolle man diese künftig wieder stärker vorantreiben. Zum Abschluss berichteten Maksym Sholomko und Igor Gomonai von Football Democracy und Ingo Petz von Fankurve Ost in einem 45-minütigen Radiointerview für Hromadske Radio von dem Arbeitstreffen und diskutierten die gesellschaftspolitischen Entwicklungen im ukrainischen Fußball. Vom 8. bis 12. September 2019 wird ein Workshop in Kyiv und in Zhitomir stattfinden, bei dem es um konkrete Fragen der Fanarbeit und der Fußballorganisation gehen wird.


Die Webseite von Dinamo Kyiv berichtete in einem Beitrag von unserem Arbeitstreffen.

 

Zudem erschien ein Beitrag auf der Seite des Regionalverbandes von Zhitomir, der ebenfalls an dem Arbeitstreffen teilgenommen hat.